Rofan #1: Von Murmeltieren und Bibern
Im Rhythmus der vom Asphalt auf die Ganzjahresbereifung des KFZ übertragenen Bodenwellen schwingt mein Körper träge durch den dunklen Innenraum der Fahrgastzelle. In die Zange genommen von zwei mitreisenden Wegbegleitern, reiben auf beiden Seiten warme Männerarme an meinem Oberkörper.
Aus dem mittels Equalizer an seine Grenzen gebrachten Hifi-System schallt Alligatoah in meine Ohren:
Du hältst mich, ich halte dich
Wir halten uns auf Distanz
Gib mir die Hand, wir sind gute Bekannte
Es gibt keinen Zwang, keine verruchten Gedanken
Du weißt, irgendwann verläuft es spurlos im Sande
und ich muss feststellen, dass die Rückbank eines Volvo XC40 nicht für drei breitschultrige Herren (bzw. das gesamte Auto nicht für vier Erwachsene, einen Hund und ein Embryo) auf einer 918 km langen Fahrt ausgelegt ist.
Den Po vor zwei Stunden zuletzt gespürt, fokussieren meine Augen das nächtlich beleuchtete Ortseingangsschild von Isernhagen. Einer der selbsternannten “schnellsten Wanderer Norddeutschlands” ist wieder zu Hause.
Ein paar Tage zuvor
Die Planung
Jährlich unternimmt ein loses Bündel Wandersleute einen Ausflug in ein Gebirge nach Wahl. Der diesjährige Gruppenleiter Julian B. aus B. hat seine Wahl auf das Rofangebirge in Österreich gelegt.
Der westliche Teil der Brandenberger Alpen wird Rofangebirge oder kurz “Rofan” genannt. Der Rofan befindet sich zwischen der Brandenberger Ache und dem Achensee.
Um die Fahrtstrecke etwas zu entzerren, wurde die Reise mit einem Zwischenstopp in Oppenheim bei nahen Verwandten des Reiseleiters geplant:
Mittwoch Abend: Abfahrt Bremen -> Hannover (einsammeln) -> Oppenheim -> Übernachtung -> Donnerstag: Weiterfahrt nach Maurach (Achensee)
Die Anfahrt
Mittwochabend, Isernhagen, 20:21 Uhr:
“Sind da :)” erschien als WhatsApp-Vorschau auf meinem iPhone. Ich nahm einen letzten Blick in meinen 26 Liter Wanderrucksack und ging in Gedanken meine Packliste durch. Bikepacking und diverse andere sportliche Outdooraktivitäten sei Dank, musste ich mir für meine erste Hüttentour außer einen Hüttenschlafsack (sehr dünner Baumwollschlafsack aus hygienischen Gründen unter den Wolldecken zu nutzen) und Wanderschuhen/Socken (größerer Invest, halten laut Verkäufer Stefan aber “ewig”) keine Gegenstände anschaffen. Powerbank, (Mini-) Kosmetika, Taschenlampe, Ohropax, Kindle, flexibel einsetzbare Klamotten für jede Wetterlage, Cap, Kamera und alles, was mir zur Sekunde nicht einfällt waren sicher verstaut, Trinkblase für den Rucksack habe ich mir dankenswerterweise leihen können.
Vor der Grundstückseinfahrt wartete schon die Reisegruppe auf mich. Bis auf Flo und ich kannten sich alle bereits untereinander. In bester norddeutscher Manier brach das Eis mit einem “moin” dankenswerterweise sofort. Spätestens die knisternde Stimmung der auf zwei Körper heranwachsender Grundschüler ausgelegten Rückbank des schwedischen Sports Utility Vehicle brachte Mathis, Flo und mich enger zusammen, als uns in manchen Momenten lieb war. Ergänzt wurde die Gruppe um Alisa, einen Embryo und die zauberhafte Hündin Chui.
406 km, viel Gelächter, viel Bier, gute Musik und Gespräche später, kamen wir in Oppenheim an.
Mit bester süddeutscher, aber dennoch nicht selbstverständlichen Herzlichkeit wurden wir von Alisas Mutter empfangen. Ein paar Getränke später, begaben wir uns in die liebevoll hergerichteten Zimmer. Mathis, Flo und ich bezogen ein gemeinsames Zimmer. Mathis und Flo vereinbarten auf Flo’s Wunsch ein “‘nein’ heißt ‘nein’!” und teilten sich das 140cm breite Kuschelnest.
Ausgeschlafen und gestärkt mit einem Frühstück aus frischen Brötchen und sehr leckerer Auswahl an verschiedensten Auflagen traten wir vier (Julian, Mathis, Florian und Sven) die Weiterfahrt über Stuttgart, München und den Tegernsee in Richtung Maurach an. Da wir Alisa und Chui in Oppenheim hinterließen, war meine große Chance gekommen, die enge, schwitzige Mitte der Rücksitzbank erfolgreich gegen eine Wellness-Oase im vorderen Bereich zu tauschen.
512 km, knappe 6 Stunden Lebenszeit, ein Bier, viel gute Musik, weitere gute Gespräche, etwas Stau und viel Asphalt später, erreichten wir die Bergstation der Rofanseilbahn in Maurach.
Der Aufstieg
Unser luxuriöses Reisemobil haben wir direkt an der Talstation geparkt. Donnerstag bis Sonntag faire 16 EUR – “da kann man echt nicht meckern”. Ein kurzer Klamottenwechsel und Check der Ausrüstung später verließen wir den Parkplatz. Unser Ziel für den Tag war die Erfurter Hütte, unsere erste Übernachtung. Als Weg hinauf bot sich der Wanderweg Nummer 401 an, da dieser direkt zur Hütte führt.
Alternative Darstellung:
Oh Boy war das ein Start. Für uns vier sportlich aktive Menschen alles machbar. Aber nach vielen Stunden sitzender Position im Auto, war die Umstellung auf recht lange Zeit vergleichbar drei Treppenstufen gleichzeitig zu nehmen, die ersten Minuten etwas ungewohnt. Nach kurzer Zeit und dem ein oder anderen “Nußler Schnaps” gewöhnt man sich an alles. Nur nicht an die wunderschöne Natur. Unzählige Male haben wir den Satz wiederholt, man könne die Ansti..
OHHHHHH!!! GUCKT MAL!!!! DA SIND MURMELTIERE!
Wenn gestandene Männer auf kleine, wuselnde Tierchen vor einer imposanten Kulisse treffen, ist kein halten mehr. Zwei von uns waren instant verliebt. Aber weiter im Text:
Unzählige Male haben wir den Satz wiederholt, man könne die Anstiege und Naturgewalt nicht ansatzweise in Fotos festhalten. Da der Bericht aber relativ langweilig ohne komprimierte JPG-Abbilder der schönen Umwelt wäre, im Folgenden eine Auswahl an Impressionen.
850 Höhenmeter auf 4,3 km waren knapp 20% Steigung und schon etwas ungewohnt:
Da es bis zum Vortag in der Region geschneit hatte, lag oben um die Hütte herum noch strahlend weißer Schnee:
Oben angekommen, haben wir nach einem kurzen Check-In unsere Schuhe und Socken in dem dafür vorgesehenen Raum verstaut und sind in unseren Schlafbereich im zweiten Obergeschoss gegangen.
Diesen muss man sich auf der Erfurter Hütte wie ein großes Erste-Klasse-Abteil im Zug vorstellen. Das Dachgeschoss ist – nach oben hin offen – von einem Gang abgehend in kleine Nischen unterteilt, in welchem die Reisegruppen ihre Schlafplätze einrichten können, wie in folgendem Video zu sehen ist:
Der erste Abend
Meinen Rucksack geöffnet, verstaute ich meine Siebensachen in zwei der dafür vorgesehenen, rechteckigen Fächer in unserem muckeligen Holzabteil in 1831m Höhe. Der Gedanke, wie sehr ich den Werkstoff Holz und seine ausstrahlende Wärme und Gemütlichkeit liebe, schwang durch meinen Kopf, als ich eben diesen während des Aufrichtens nach links richtete und den halb durch Wolken verdeckten Achensee am Fuß des Berges erblickte. Scheiße, ist das schön hier.
1,5 Personen von uns schnarchten. Ich meistens nur, wenn ich Alkohol getrunken habe. Die Wahrscheinlichkeit bei diesem Trip können sich die Lesenden also recht simpel selbst ausrechnen. Nachdem wir die Betten verteilt hatten (ich oben, unter mir Mathis und daneben, nebeneinander Julian und Flo), gingen wir, bewaffnet mit unseren Kulturtäschchen und Duschmarken einen Stock tiefer in den Spa-Bereich dieser Luxusimmobilie.
Der “Spa-Bereich” umfasste vier Waschbecken und eine Dusche, aus welcher uns ein halb eingeschäumter Franzose freundlich begrüßte. So standen wir also da. Wir vier und zwei weitere, uns fremde Männer in diesen toxischen 8 Quadratmetern. Der eine nackt, der andere halbnackt und mancher in eine lange Unterhose der LIDL-Eigenmarke Crivit verpackt. Eine Duschmarke brachte uns 3:30 Minuten warmes Wasser auf die Haut und somit die Basis für einen ersten wunderbaren Abend.
‘und ein kaschtriertes hoab I noch da’
bitte?
‘n kaschtriertes!’
?
‘a alkoholfreies!’
achsoo, ja sorry, das bekomme ich!
Die erste kleine Sprachbarriere übersprungen, wurden wir auf der Hütte wunderbar verpflegt. Die Speisekarte war für eine Hütte sehr umfangreich und alle hatten etwas Schmackhaftes ausgewählt. Im Anschluss haben wir viele Stunden das Kartenspiel “Wizard” gespielt, Bier und Schnaps getrunken und gelacht gelacht gelacht. Um uns herum war reges treiben, da die Hütte recht gut besucht war. Eine Familie da, ein Pärchen dort, zwei Kumpels am Fenster und eine Handvoll Kinder. Gegen 22 Uhr begann die Bettenruhe, an welche sich alle Gäste gehalten haben. Im großen Schlafsaal war es überraschend ruhig. Wir hatten uns, jeder für sich, zurückgezogen, Podcasts gehört, Serie geschaut oder, dem Kindle mit Hintergrundbeleuchtung sei dank, gelesen. Bereitgestellt wurde neben dem Bettlaken eine Wolldecke und ein Kissen. Daher der eingangs bereits erwähnte “Hüttenschlafsack”. In eben diesem legt man sich hinein und deckt sich mit der Wolldecke entsprechend zu. Trotz überraschend ruhiger Nacht hatten wir alle eher unterdurchschnittlich geschlafen, waren am nächsten morgen aber mehr oder weniger fit.